Stefan Rühlmann

Bücher und Zeichnungen

Fotobuch und gleichzeitig Leseprobe

Auf dieser Seite veröffentliche ich Teile von Timecaching und umrahme die Textpassagen mit Fotos, die ich selber aufgenommen habe, als eine Art Bilderbuch mit Text. Viel Spaß beim Lesen und klicken Sie die Bilder an ... ;-)


Goseck

Nachdem wir am Montag mit dem Bus in Goseck ankamen, blieb uns nichts anderes übrig, als die letzten Meter der steilen Straße zum Schloss hinunterzulaufen. Unser Bus konnte die holprige Kopfsteinpflasterstraße, die von hohen Büschen und Bäumen flankiert war, nicht befahren.  Ein bisschen erinnerte mich der Fußmarsch zum Schloss auch an die Klassenfahrten während meiner Schulzeit: Vorneweg lief Frau Lichtenau und wir folgten ihr in Zweierreihen nach. Die Straße führte durch einen riesigen steinernen Torbogen und endete direkt auf dem großen Schlosshof. Es war an diesem Junitag angenehm warm, sodass wir alle lediglich TShirts und Jeans trugen.  Und still war es. Bis auf das Zwitschern der Vögel konnte ich kaum etwas hören, keine Autos, keinen Lärm, nichts. Lediglich in der Ferne fuhr ein ICE im Tal über die Gleise.  „Das gibt es doch gar nicht, da wächst ja ein uralter Ginkgobaum.“



Isabel lief an Frau Lichtenau vorbei und steuerte auf den Baum in der Mitte des Hofes zu. Isabel … was für eine blöde Kuh, ich sprach seit Wochen kein Wort mit ihr. So schön ihre langen blonden Haare waren, genauso eingebildet und arrogant war sie auch. Sie trieb ziemlich viel Sport und sah sehr gut aus, das musste ich ihr lassen. Aber offenbar schien sie Leute, die nicht so waren wie sie, generell zu ignorieren. Dabei hatte sie kaum Freunde. Ich mochte sie auch aus dem Grund nicht, weil sie in meinen Augen ein absolut oberflächlicher Mensch war. 
Selbst Adrian verdrehte die Augen, als er ihre Stimme vernahm. Er ging neben mir, an seiner anderen Seite lief Cigdem, unsere einzige Türkin in der Gruppe. Anfangs hatte ich Probleme, ihren Namen überhaupt auszusprechen, aber irgendwann war es pure Gewohnheit. Tschitem, so würde ich es schreiben. Doch ich mochte sie. Sie war locker, witzig, geistreich und nie um eine Antwort verlegen. Adrian und Cigdem führten seit Langem eine Beziehung miteinander, aber wegen Cigdems Angst vor ihrer Familie versuchten die beiden, ihre Liebe möglichst geheim zu halten. Ich hatte zwar nie mit Adrian darüber gesprochen, doch war mir klar, dass mein bester Kumpel darunter litt. Aber er musste Cigdem sehr lieben, sonst wären die beiden sicherlich nicht mehr zusammen.  Ich glaube, ich hätte so eine Beziehung nicht führen wollen, aber das war die Angelegenheit von Cigdem und Adrian. Wobei ich nicht davon ausging, dass ihre Brüder ihm oder ihr wirklich etwas antun würden, immerhin kam ihre Familie bereits vor drei Generationen nach Deutschland.  Jedenfalls konnte ich es mir nicht vorstellen.

Wir versammelten uns alle um den großen Baum, bei dem es sich tatsächlich um einen Ginkgobaum handelte. Schade, ich hätte Isabel von Herzen gegönnt, sich ordentlich zu blamieren …  Links neben uns, auf der Seite neben dem gewaltigen Torbogen, standen drei kleinere Gebäude, in welchen die Verwaltung, der Info-Punkt und eine Gaststätte untergebracht waren. Die Gebäude waren meiner Meinung nach aber nicht dem frühen Mittelalter zuzuordnen, sondern sicherlich im letzten oder vorletzten Jahrhundert ursprünglich als Ställe erbaut und genutzt worden. Daran anschließend befand sich eine verspielte, höchstens drei Meter hohe, mit Zinnen besetzte Mauer. Sie machte auf der linken Seite einen Knick im Winkel von neunzig Grad, verlief ein paar Meter weiter und am Ende der Mauer erhob sich die Schlosskirche. Diese war der hauptsächliche Grund, warum wir hier waren.

Ich fand die Schlosskirche auf den ersten Blick hässlich. Sie war sehr hoch und auf dem Dach befand sich ein kleines Türmchen, welches sicherlich eine Glocke beherbergte.  An die rechte Seite der Kirche schloss sich, im rechten Winkel nach vorn, ein etwas neuzeitlicheres, zweigeschossiges Haus an. Laut Frau Lichtenau war dies ein Gästehaus und wurde erst in den 1950er-Jahren errichtet.

 

Direkt neben dem Gästehaus konnten wir den älteren Teil des Schlosses sehen, in dem Reste des Turmes der ehemaligen Kirche integriert waren. Alles in allem recht nett. Man sah allerdings auch, dass es noch viel Geld und Zeit bedürfen würde, ehe hier alles wieder im alten Glanz erstrahlen konnte. Besonders das Gästehaus passte einfach nicht in das Ensemble hinein. Unsere Professorin erzählte uns im gemütlichen Plauderton, dass hier, an dieser Stelle, um 890 bereits eine Burg gestanden haben soll, die aber im Jahr 1041 einem Klosterneubau weichen musste. Die Klosterkirche wurde im Jahre 1056 geweiht. Das Kloster wurde allerdings 1540 in ein Rittergut umgewandelt, wofür Säkularisierung der fachlich richtige Begriff ist.  Weiter hörte ich nicht zu, denn Tobias amüsierte mich wieder einmal. Tobias war der jüngste in unserer Runde und schwul. Er selber muss sich dieser Sache damals noch gar nicht bewusst gewesen sein, nur verhielt er sich so, wie man es von Schwulen klischeehaft ‚erwartete‘. Wobei ich nichts gegen Homosexuelle habe. Aber es war schon witzig, wie er aufschrie und mit den Armen wedelte, nur weil eine Ameise an seinem Handgelenk entlangkrabbelte.

Frau Lichtenau führte uns über den großen Hof, am Ginkgobaum vorbei zur Klosterkirche. Die Klosterkirche erhob sich majestätisch über alle anderen Gebäude hinweg, wobei mich im ersten Moment irritierte, dass es links neben dem Eingang zur Kirche lediglich hohe, fensterlose Wände gab. Nur oben, kurz unter dem Dach, konnte man erkennen, dass es in den Wänden einmal Fenster gegeben haben musste. Jetzt waren diese jedoch zugemauert. Unsere Professorin erklärte, dass diese Kirche zu der ehemaligen Benediktinerabtei gehörte und eine bemerkenswerte Krypta besitzt.

Als wir das kühle Innere des alten Gebäudes durch das hohe Eingangsportal betraten, fand ich mich zwischen zwei braun gestrichenen Holzsäulen wieder.Auf beiden Seiten des kurzen Ganges, der zum Altar führte, standen hölzerne Klappstühle, ebenfalls in brauner Farbe. Über diesen Stühlen hatte man irgendwann drei Emporen übereinander errichtet, recht hoch für eine Kirche dieser Größe, fiel mir auf. Die Höhe im Inneren wirkte noch imposanter, als es von außen den Anschein hatte.

Ich ging mit unserer Gruppe in Richtung Altar. Frau Lichtenau erzählte etwas, doch ich war in Gedanken versunken. Mich faszinierte eine in Stein gehauene Gruppe von betenden Menschen, die unter einem Baldachin knieten. Eigenartigerweise hatten die Figuren keine Köpfe. Rechts knieten drei kopflose Männer, links sechs kopflose Frauen. Ich betrachtete diese Plastiken ausgiebig und stellte mir gerade bildlich vor, wie der damalige Bildhauer oder auch Steinmetz diese Werke erschaffen hatte. Komischerweise kommt mir in solchen Momenten immer die Frage in den Sinn, wie das Privatleben dieses Bildhauers ausgesehen haben musste. Noch dazu hier, in einem Dorf, fernab jeder größeren Stadt. Allerdings gab es in der Zeit um 1050 kaum größere Städte in dieser Gegend. Die größte Stadt auf heutigem deutschen Gebiet war Köln mit rund 10.000 Einwohnern.